Erinnerung und Wahrheit: Ein Gespräch mit Rike Bolte

29.03.2024

Wir befinden uns hier mit Prof. Rike Bolte aus der philosophischen Abteilung der Universidad del Norte. Willkommen, Prof. Bolte, danke, dass Sie heute hier sind. Wir fangen gleich mit der ersten Frage an: Könnten Sie sich kurz vorstellen? Woher kommen Sie und was haben Sie studiert?

Gerne. Ich komme aus Berlin, bin aber in Spanien aufgewachsen und habe außerdem in Lateinamerika gelebt, vor allem in Argentinien. In Kolumbien bin ich seit 2018. Studiert habe ich Literatur- und Kulturwissenschaften, promoviert habe ich im Bereich der Lateinamerikanistik. Zu meinem Studium hat die Romanistik gehört, dass ich Sprachen wie Katalanisch, Italienisch und Portugiesisch gelernt habe. Französisch ist in der Romanistik ein Automatismus. Ich habe in Deutschland deswegen nicht nur lateinamerikanische und spanische Literaturen unterrichtet, sondern auch französischsprachige Literaturen.

Meine Promotion ist im Bereich der für unser Interview sehr relevanten Memory Studies, der Erinnerungsforschung, angesiedelt. Es ging in meiner Doktorarbeit um Lateinamerika und speziell um Argentinien. Ich habe mich mit den "zwangsweise Verschwundenen" befasst, den desaparecidos forzados. Es ist ein Thema, das schon lange sehr intensiv untersucht wird, aber ich habe damals die ersten ästhetischen Produktionen von Kindern von Verschwundenen untersucht, und zwar im Bereich Literatur, Fotografie, Poesie, Theater und im Bereich aller anderen Ausdrucksformen. Ich habe die medialen und ästhetischen Strategien ins Auge gefasst, die die betroffenen Kinder (die lange schon Erwachsene sind) wählen, um die Figur der (durch erzwungenes Verschwinden) abwesenden Mutter und des abwesenden Vaters darzustellen oder besser: zu 'kontra-repräsentieren', wie ich in meiner Arbeit sage. Es geht um den Versuch der Erinnerung an Menschen, die vom Staat entführt, gefoltert und ermordet wurden. Das definitive Skandalon dieser Katastrophe liegt darin, dass die sterblichen Überreste dieser Menschen oft nicht auffindbar sind. Was kann dem entgegengesetzt werden? Im Kontext dieser Frage habe ich eine Phänomenologie des Verschwindens erarbeitet. Ich habe mich gefragt: was ist Verschwinden überhaupt? Bereits nicht erzwungenes Verschwinden ist für den menschlichen Geist eine Herausforderung; erzwungenes Verschwinden ist immer eine Katastrophe. Die Frage ist: Was machen Menschen, die davon ganz direkt betroffen sind, im Bereich der Fotografie, des Theaters usw.? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Wahrheit, der historischen Wahrheit der historias recientes rund um die Diktaturen des Cono Sur. Was können die Kinder der Verschwundenen als Wahrheit begreifen? Was ist ihre ganz eigene Wahrheit? Was ist die Wahrheit von Kindern, die womöglich in Folterzentren geboren und dann in fremde Familien entführt wurden? Was ist die Wahrheit von Kindern, die ganz klein waren, als sie erleben mussten, wie ihre Eltern entführt wurden? Und wer erzählt die Wahrheit der anderen, vorherigen Generationen, etwa jener, aus der die zwangsweise Verschwundenen stammen? Was sagen die Täter? Einer der Hauptverantwortlichen der Gräueltaten der auch als 'Proceso' (de Reorganización Nacional) bekannten letzten argentinischen Diktatur, Jorge Videla, behauptet noch im Jahr 2012 vor Gericht, die Gebärenden in den Folterzentren seien "Teil einer [antipatriotischen, linken, etc.] Terrormaschinerie gewesen"!

Wie kann auf so etwas ästhetisch geantwortet werden?

Das klingt sehr interessant, besonders die Forschung in Bezug auf das, was in Argentinien geschehen ist. Wann war das nochmal?

In Argentinien hat es viele Diktaturen gegeben, und die Figur des Verschwundenen ist nicht neu, aber ich habe mich auf die Diktatur in den siebziger Jahren konzentriert. Die letzte dictadura cívico-miliar beginnt 1976 und endet 1983. Da wird die Figur des Verschwundenen zum Paradigma, auch weil die Madres de Plaza de Mayo anfangen, mit Plakaten nach ihren Kindern zu suchen. Auf diesen Plakaten erscheinen Silhouetten, die als erste mediale Repräsentation des Verschwundenen dienen. Die Frage danach, was ein Verschwundener (oder eine Verschwundene) ist, erhält im wahrsten Sine des Wortes Konturen. Im Kontext dieser Bewegung der Madres kommt es zudem zu einer symbolischen Chiffre. Es wird auch diskutiert, wie viele Menschen 'verschwunden wurden'. Man spricht von 30.000, doch es waren womöglich mehr. Es gibt natürlich Stimmen, die sagen, es waren weniger; trotzdem ist 30.000 die Ziffer, das Symbol für das Fehlen von vielen, vielen Menschen. Es handelt sich dabei auch um eine ganze Generation von Intellektuellen. Und hier liegt der Unterschied zu Kolumbien. Die Verschwundenen der letzten Diktatur in Argentinien stammten zu einem großen Teil aus dem intellektuellen Milieu; weiterhin aus dem Arbeitermilieu bzw. dem gewerkschaftlichen Milieu. Die Frage nach dem territorio, die in Kolumbien zum desplazamiento forzado und zu einer sehr komplexen Kartographie der Gewalt geführt hat, spielt hier kaum eine Rolle. Argentinien lässt sich sehr wohl hinsichtlich der Orte und Räume der Gewalt 'mappen', doch

kommt dabei ein ganz anderes Szenario heraus. Die inneren Konflikte in Lateinamerika sind je sehr spezifisch.

Ja, sie sind sehr einzigartig. Unsere zweite Frage bezog sich auf Ihre Forschung, aber Sie haben schon drauf geantwortet. Unsere nächste Frage wäre: Warum sind Sie an der kolumbianischen Wahrheitskommission interessiert?

In den letzten Jahren habe ich mich mit der Ökokritik beschäftigt. Das heißt, dass ich mich immer wieder mit der Frage nach dem Land, der Erde, dem Leben als solchen befasse. Ich bin keine Spezialistin, was den kolumbianischen Fall angeht, aber in den Konferenzen, Symposien, Kongressen, die ich besucht habe, auf denen es um erzwungenes Verschwinden ging, war vor allem Argentinien sehr präsent. Vor schon fast zehn Jahren habe ich auf einem Kongress in London gefragt: wo sind die Leute aus Peru, wo die aus Kolumbien? Wir brauchen mehr Dialog zwischen diesen Ländern, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Konflikte ausmachen zu können. Elizabeth Jelin, eine argentinische Soziologin, hat Karten zum Trauma in Lateinamerika angelegt; sie ist oft in Berlin gewesen und war somit eine wichtige Referenz für den soziohistorischen Teil meiner Arbeit. Was Kolumbien angeht, forsche ich hier an der Uni eigentlich zu anderen Themen, die Memory Studies werde ich aber immer verfolgen, was die ästhetischen Aspekte angeht, ebenso wie die Bedingungen für ästhetische Produktionen in dem Kontext. In Argentinien ist es zu einer literatura de los desaparecidos gekommen, sie wird nach der Jahrtausendwende begründet und vom Staat unterstützt. Mit Néstor Kirchner als Präsident wird ab 2033 eine política und cultura de la memoria instauriert, es gibt Förderprogramme etc. - und genau das hat viel mit der Arbeit der argentinischen Wahrheitskommission (CONADEP) zu tun. Was für eine Arbeit hat die argentinische Wahrheitskommission in den 1980er Jahren gemacht, und welche Arbeit erledigen andere Kommissionen in Lateinamerika? Handelt es sich um eine Kommission, die sich für die eine Wahrheit oder für mehrere Wahrheiten interessiert? Interessiert sie sich darüber hinaus für reconciliación und reparación, für Versöhnung und Widergutmachung? Da gibt es mehrere Möglichkeiten, etwa: "no puede haber reconciliacción" oder "sí debe haber reconciliación." Auch die Frage nach entsprechenden Reparationen kommt auf, z.B. für betroffene Kinder, die – in den Fällen, die ich untersucht habe, z.B. Stipendien bekommen haben, um Kunst machen zu können, oder die eine Rente erhalten haben, so dass sie sich ein Zuhause schaffen konnten, und dann entsprechend anders leben und arbeiten konnten. Es gibt Vereinigungen wie H.I.J.OS, die u.a. Kulturarbeit machen

Vor diesem Hintergrund, der schon lange erforscht wird und dennoch weiterhin überaus aktuell ist (siehe: https://www.hijos.org.ar/ ; https://www.cancilleria.gob.ar/es/encontrarte), frage ich mich, wie die entsprechenden Initiativen in Kolumbien aussehen. Das ist für mich gewissermaßen eine zeitversetzte Frage, weil ich aus einer Forschung zu einer Katastrophe der argentinischen siebziger Jahre komme. In den achtziger Jahren erfolgen in Argentinien die ersten Aufarbeitungen durch die Kommission unter der symbolischen Leitung von Ernesto Sábato, bekanntermaßen einer der großen Autoren der argentinischen Neo-Phantastik. Es ist signifikant, dass ein Schriftsteller und Intellektueller den Bericht der Kommission (den Nunca más-Bericht) über die desaparecidos forzados unterschreibt – unter anderem, weil das Verschwinden als unheimliche Kategorie begriffen wird. Das ist durchaus problematisch – weil es depolitisiert (bzw. re-ideologisiert hat) -, trifft aber auch einen sehr wirkungsvollen Aspekt der sozialen und politischen Katastrophe. Wir sehen, dass Politik und Ästhetik nicht zu trennen sind. Von diesem Moment an gibt es in Argentinien eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Sprache der Erinnerung sowie der Frage: Wie können wir erzählen? Und: Wer genau erzählt?

Und da frage ich mich natürlich, wann diese Dinge in Kolumbien starten, wo der Konflikt so viel länger währt und einiges komplexer und sowieso ganz anders gestaltet ist. Wie sehen die

Möglichkeiten der Wahrheitskommission sowie anderer Projekte aus und wie wird die Forschung an den Universitäten betrieben, um dem Begriff von Wahrheit, Trauma und kollektivem Trauma näher zu kommen? Gibt es überhaupt ein kollektives Trauma? Kann subjektives Trauma in kollektiven Erzählungen vermittelt werden? Und: Welche Rolle spielen die Täter bei diesen Erzählungen, beziehungsweise: wie können wir erreichen, dass Täter und Opfer miteinander ins Gespräch kommen? In Argentinien, wo die Erinnerungsarbeit, wie gesagt, Tradition hat, sind diese Fragen auch relativ neu. Lola Arias hat vor etwas mehr als zehn Jahren das Stück Mi vida después auf die Bühne gemacht. Arias macht Bio-Drama, eine Form von Theater, bei dem es um das "echte" Leben geht. Es werden Leute auf die Bühne gebeten, die etwas zu erzählen haben. Es gibt keine professionellen Schauspielerinnen oder Schauspieler. Obwohl Arias selbst keine Tochter von Verschwundenen ist, holt sie in diesem Stück Kinder von Verschwundenen und Exilierten und eine Tochter von einem Täter auf die Bühne. Und, was geschieht? Das Ganze ist brisant: die Madres de Plaza de Mayo erklären, es sei unmöglich, die Tochter eines Täters zusammen mit den Kindern von Opfern zusammen zu bringen. Doch dank der Erforschung von Materialen wie Fotos, Dokumenten und Akten zum Bühnenstück, hat diese Täter-Tochter den Mut gefasst, ihren "Adoptivvater" (der sie entführte), anzuzeigen und einen Prozess gegen ihn aufzunehmen. Das heißt, ein Theaterstück hat dazu geführt, dass eine Darstellerin sich gegen ihren "Vater" (ihren nicht biologischen Vater), der Militärmann war, einen Prozess zu initiieren.

Zurück zu Kolumbien. Ich arbeite zurzeit mit Ana María Vallejo zusammen, einer Regisseurin, die aus Medellín stammt, aber jetzt in Weimar lebt. Ich habe sie in Deutschland kennengelernt. Sie hat mit anderen Künstlerinnen aus Kolumbien, die teilweise in Kolumbien, teilweise im Ausland leben, auf der Basis eines Gedichtbandes von Maria Mercedes Carranza - El canto de las Moscas (1994) - einen kollektiven Animationsfilm gemacht. In diesem Film teilen die Künstlerinnen ihre Vision bzw. Perspektive, ihre Sicht auf die Texte von Carranza; deren Gedichtband bezieht sich wiederum auf eine Reihe von Massakern, die in Kolumbien geschehen sind. Was machen die Künstlerinnen, um diese Tragödie in Bilder zu fassen und auf die Leinwand zu bringen? Ana María Vallejo hat hier an der Universidad del Norte betont, wie wichtig für ihren Film die Darstellung der Landfrage ist. Bezüglich des Vergleichs mit Argentinien möchte ich selbst auch noch einmal unterstreichen, dass es in Kolumbien um eine Form von Verschwinden geht, die sich anders ausnimmt als die argentinische. Und der Film geht entsprechend mit seinen Darstellungsverfahren um. Es ist ein sehr haptischer, teilweise 'erdiger', sehr materieller Film.

Was glauben Sie ist die Rolle von den historischen Erzählungen der Wahrheitskommission in der kolumbianischen Gesellschaft?

Die Wahrheitskommissionen sind ein Instrument, das es schon lange gibt, unter anderem auch in afrikanischen Ländern. Wenn man Lateinamerika betrachtet, gibt es Kommissionen etwa in Argentinien, Chile, Bolivien und Uruguay. Diese Kommissionen haben alle leicht unterschiedliche Namen, es gibt Nuancen, die ihre jeweilige Programmatik vermitteln. Die Frage ist, welches Ziel die Kommission je hat, z.B.: wird Versöhnung vorangestellt oder geht es erstmal um etwas anderes, gar um die Forderung nach Reparation? Diese Forderung gibt es nicht immer. Vorrangig sollte bei allen Wahrheitskommissionen wohl die Wahrheit sein (sonst würden sie nicht Wahrheitskommissionen heißen). Doch Wahrheit wird im Plural erzählt! Kann sie dann auch so niedergeschrieben werden, wo es doch wirklich viele Versionen und Erfahrungen zu sammeln gibt? Eine einzige Wahrheit zu autorisieren und zu sagen: "das ist die Wahrheit", halte ich für hoch problematisch. Das wird unweigerlich zu Konflikten führen, die retraumatisierend wirken können

Sie haben über Reparation und Versöhnung gesprochen. Was ist dann mit Frieden?

Frieden ohne Aussprache und ohne Entwaffnung ist unmöglich. Und genau das ist für Kolumbien so spezifisch. In welchem anderen Land Südamerikas, wo es Guerrilla und einen gewalttätigen Staat gegeben hat, hat das Abgeben von Waffen so eine große, auch international zur Schau gestellte Rolle gespielt? Und, was heißt Frieden? Führen wir uns zudem vor Augen, dass es ein Vorhaben gibt, das sich "Paz total" nennt. Die Frage geht zurück: Was ist Frieden?

Das Ausbleiben von Konflikten?

Konflikte wird es in einer Demokratie immer geben. Welche Form von Konflikten soll ausbleiben?

Bewaffnete Konflikte?

Bewaffnete Konflikte, genau. Ein Begriff, der sofort mit Kolumbien assoziiert wird. In Argentinien hat man ganz andere Begriffe verwendet. Noch einmal zurück zur Waffenabgabe: sie ist auch eine Geste. Was aber ist mit den Worten? Werden auch Worte abgegeben? In welcher Art und Weise wurde und wird über den Konflikt gesprochen? Wie viel Gewalt lag und liegt auch heute noch in der Sprache? Und: Welches ist die Sprache, über die Täter und Opfer miteinander ins Gespräch kommen? Kann sprachliche Friedensarbeit geleistet werden? In dem Moment, in dem miteinander gesprochen wird, ist wichtig, wie es passiert, ja, dass gewaltfrei gesprochen wird. Und auch, ob es bei einer solchen Begegnung zu einer Entschuldigung kommt. Kann es Versöhnung über einer Erklärung geben, dass der Täter etwas gemacht hat, das er einst gar nicht richtig begriffen hat und erst jetzt versteht? Dass die Betroffenen sich in ihrer Traumatisierung angehört, verstanden und ernst genommen fühlen, ist die Grundvoraussetzung für den Aufbau von Frieden. Ich finde die Formulierung "búsqueda de paz" adäquat. Suche nach Frieden. Es geht um den Versuch, zu Frieden zu kommen, indem die Bedingungen dafür geschaffen werden.

Ja, auf jeden Fall. Kommen wir zur Opfer-Täter-Frage. Welche Rollen, glauben Sie, haben Opfer und Täter in den Berichten der Wahrheitskommission gespielt?

Ich möchte gerne auf eine Erzählung eingehen, die hier an der Universität wiedergegeben wurde, als Anfang September 2022 die Veranstaltung zur Escucha stattfand (siehe https://www.youtube.com/watch?v=AIlS3FgOObQ). Da hat eine der Vortragenden, Martha Nubia Bello, die seit Jahrzehnten Opfern zuhört, von einem Fall berichtet, bei dem ein ehemaliger Paramilitär sich die Geschichte des Opfers anhören musste. Eine echte Exposition. Der Täter liefert sich einer Situation aus, in der er oder sie etwas anhören muss, das etwas mit seiner (oder ihrer) eigenen Gewaltanwendung zu tun hat. Das Opfer berichtet und der Täter hat dann, in dieser Konstellation, die eigene Tat 'erhört'. Es ist, glaube ich, zu einer Umarmung gekommen, in jedem Fall zu einem Moment körperlicher Sprache. Genau das interessiert mich. Auch im Falle Spaniens. Ich habe zum Werk eines Fotografen geforscht, José Aymá, der eine Begegnung zwischen Enkeln der Republikaner und Enkeln der Franquistas porträtiert hat (siehe: file:///C:/Users/rikeb/Downloads/jmaria,+5_bolte_corr_def.pdf). Diese Fotos sind beindruckend, weil man in den Gesichtern von den Kindern der Republikaner etwas anderes als in den Gesichtern der Kinder der Franquistas liest. Da erblicken wir eine Körpersprache der Begegnung, aber auch diese ganz subtile Sprache des Gesichts von jemandem, der aus ideologischen Gründen eine besondere Geschichte erleiden musste. Diese Begegnungen und der körperliche Kontakt sind, glaube ich, für Kolumbien extrem wichtig, weil letztlich der bewaffnete Konflikt oftmals bedeutet, "getötet zu haben". Und wir müssen über die Katastrophe der Körper sprechen. In Kolumbien sind viele Körper - Menschen - verschwunden und teilweise in Gewässern aufgetaucht, wie in Argentinien. Der Rio de la Plata in Argentinien ist eine Grabstätte. Die Menschen sind narkotisiert aus Flugzeugen abgeworfen worden und an den Stränden gelandet. Diese Katastrophe ist "körperlich"! Was die

Menschen gesehen haben, ohne aber darüber sprechen zu können, ist wiederum in der Seele oder Psyche "sedimentiert". Deswegen denke ich, dass Frieden nur stattfinden kann, wenn wie sagen: eine traumatisierte Psyche oder das Subjekt, das traumatisiert wurde, verlangt irgendwann nach einer Art Befreiung von diesem inneren tormento: ich habe etwas gesehen oder erlebt, was nicht bewältigbar ist. Und das ist auch der Fall bei der Vergewaltigung von Frauen - ein besonderes Kapitel der Wahrheitskommission. Oder die Erfahrung von sexualisierter Gewalt bei Mitgliedern des LGTBI. Über die Aussprache und Anhörung dessen, was mir angetan wurde ist und der Begegnung mit dem, der es mir womöglich angetan hat, werden Versionen von Erfahrung und Wahrheit ausgetauscht, und allein dieser Austausch und dieses 'Herausbringen' von schrecklichen Dingen sind vielleicht der leise Beginn von Frieden.

Ja, das macht Sinn. Denken Sie, dass die Wahrheitskommission als Fortschritt in unserer Gesellschaft betrachtet werden könnte?

Ja, sie ist ein Fortschritt in dem Sinne, dass wir voranschreiten. Eine Gesellschaft kann keine gesunde Zukunft haben kann, wenn die Vergangenheit nicht betrachtet wird. Das galt und gilt auch für Deutschland. Sehen wir, was gerade in meinem Heimatland geschieht! Ich spreche von den sogenannten Reichsbürgern. Da ist noch einiges gar nicht klar, trotz jahrzehntelanger Erinnerungsarbeit. Wenn die Vergangenheit nicht geklärt ist, und das sieht man in der Science Fiction, am Motiv der Zeitreise, dann wird nicht richtig in der Zukunft angelangt. Man kann sich das wirklich so literarisch vorstellen.

Ich denke, dass es Kolumbien lange dauern wird. Stellen wir uns die Frage nach den Generationen. Als Deutsche sehe ich, wie lange es gedauert hat, bis die Berliner Mauer als Paradigma eines Trennungstraumas (und anderer Traumata) aus den Köpfen verschwunden ist. Man hat tatsächlich von der "Mauer im Kopf" gesprochen. Ab wann ist die Mauer nicht mehr im Kopf? Sie ist noch als Schatten in der nachkommenden Generation vorhanden. Es ist ein langer Prozess.

Traumatische Erfahrungen und Erinnerungen nivellieren sich nur, wenn in Kindergärten, Schulen, Universitäten, und in Kommissionen und NGOs etc. damit gearbeitet wird. Dabei ist der Begriff des transgenerationellen Traumas extrem wichtig. Werden z.B. auch Kinder angehört? Es gibt Forschungen zu Chile, die belegen, dass Kinder und sogar Enkelkinder von Gefolterten Depressionen entwickelt haben. In meiner Generation – also in Deutschland – liegen sehr viel mehr Depressionen als in der Generation meiner Eltern vor. Psychologie und Psychoanalyse sind hier unerlässlich. Daher denke ich, dass Kolumbien viel Arbeit vor sich hat. Arbeit im Bereich Theater und in anderen Ausdrucksformen, die "kathartisch" sein können, in denen man z.B. schreiben, heulen oder sich auf den Boden werfen – oder lange schweigen - kann, ist fundamental. In Argentinien hat man mit Reenactments gearbeitet. In dem Stück von Lola Arias ziehen sich die Darsteller.innen die Klamotten, die originalen Kleidungsstücke des Täters, an, und spielen nach, was dieser womöglich getan hat, als er sie getragen hat. In Kolumbien ist Theater schon vor Jahren als "repertorio de acción de las víctimas" verstanden worden. Auch der Tanz ist geeignet. Die Kombination von 'Herauslassen' und Vitalisierung ist potent. Traumatische Erzählung ist nämlich oft sehr heikel. Die traumatisierte Person wird mitunter sehr stark wiederholen - eine Art traumatische Redundanz -, die natürlich erklärbar und mehr als legitim ist. Die Frage aber ist: Wie komme ich mit diesen Erzählungen weiter? Der Fortschritt betrifft auch das Subjekt. Körperarbeit ist eine Hilfe.

Martha Nubia hat von geschlechtsspezifischer Gewalterfahrung berichtet: Bereits in der Vorstellungsrunde einer Begegnung mit mehreren Frauen, denen es zuzuhören galt, hat eine Frau angefangen zu weinen. Daraufhin haben alle anderen auch angefangen zu weinen. Da musste sofort reagiert werden, und die Antwort war: Hier wird jetzt geweint. Die Methode ist: "socializar el

dolor", – ich zitiere Frau Nubia. Gleichzeitig gibt es Verunsicherung darüber, wer eigentlich Opfer ist. Es gibt viele Frauen, die, so sehr sie auch Gewalt erfahren haben, sich ihres Status nicht sicher sind – oder sich schämen, und dann denken, sie dürfen nicht sprechen. Das braucht es viel Vertrauensarbeit. Die Frage ist auch oft, wo gesprochen wird, und wieviel Zeit es dafür gibt. Auch für das Weinen.

Ja, weinen wirkt kathartisch. Nun unsere letzte Frage: Halten Sie die Bemühungen darum, die Wahrheit zu erfahren, für ausreichend, um gewaltsame Ereignisse in der Zukunft zu vermeiden?

Nein, leider nicht. Aber sprechen wir positiv: Wir brauchen einen Raum, ja Räume, in dem/denen die Wahrheit(en) wachsen kann/können. Es ist immer ein Prozess, es kann nicht einfach gesagt (oder diktiert) werden: das ist jetzt die Wahrheit. Erinnerungsarbeit, Erinnerungskultur (um nicht zu sagen: Erinnerungspolitik) ist ein offener Prozess, so, wie das Gedächtnis offen ist. Wir erinnern uns und werden uns neu erinnern; wenn wir traumatisiert sind, wird es in der Regel immer die gleiche, uns gewaltsam einholende Erinnerung sein. Es ist wichtig, dass wir etwas mit der Wahrheit machen, dass wir ihre Plastizität verleihen. Und da sind automatische viele Akteurinnen und Akteure involviert.

Wir brauchen Plattformen, in der die Wahrheit(en) greifbar wird/werden. Auch institutionelle Gedächtnisräume. Da ist z.B. das Museo de la Memoria. Museen sind begehbare Erinnerungs-Instrumente. Es gibt aber auch den öffentlichen Raum, der auf andere Weise als ein Museum Leute zusammenbringt, damit sie gemeinsam erinnern. Stellen wir uns einen Spielplatz vor, der auch eine Widmung an Kinder ist, die gelitten haben, und wo gleichzeitig Spiele stattfinden, die mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zu tun haben. Wir brauchen die Bibliotheken, die Archivräume haben, in die man hinein gehen kann und Akten ansehen oder gar anfassen kann, wo man an Führungen teilnehmen kann, wo Opfer berichten. Wir brauchen symbolische und gleichzeitig dynamische Repräsentationen, keine Wiedergutmachungsornamente oder -politik, weil es, wie ich glaube, keine Wiedergutmachung geben kann. Für diejenigen, die Gewalt erfahren haben, ist es wichtig, Orte zu haben, durch die und an denen sie sich repräsentiert fühlen. In Argentinien gibt es einen Ort, der Ex-ESMA heißt. Die ESMA war ein Folterzentrum, in dem viele Kinder von Verschwundenen geboren wurden. Die Ex-ESMA ist jetzt ein Kulturraum in Buenos Aires, in den Veranstaltungen und Führungen stattfinden und wo manche der Kinder der desaparecido/as Arbeit gefunden haben. Sie leben von dieser Arbeit, und arbeiten oft im Geiste ihrer Eltern, führen deren soziale und kulturelle Überzeugungen fort - und haben gleichzeitig einen vom Staat gestellten Raum zur Verfügung bekommen, wo sie sie sich professionell mit der Vergangenheit befassen können. Argentinien ist ein Land, das sehr zentralistisch ist. Kolumbien ist diverser (weil viel der Diversität Argentiniens schon vor langer Zeit vernichtet wurde); und wir befinden uns in der Karibik, in Barranquilla, wo gerade so viel gebaut wird. Es gibt hier Menschen, die des Konflikts wegen Familienmitglieder verloren haben. Gibt es in Barranquilla einen Ort für sie, der zugleich ein Ort für alle ist? Was machen die Städte, die municipios und barrios in der Hinsicht? Und: Unter welchen sozialen, politischen und auch ökologischen Umständen ist es an diesen Orten möglich, an einer Erinnerungskultur zu 'bauen'?

Prof. Bolte, vielen Dank, dass Sie mit uns gesprochen haben.

Interview: Saray Acosta Hernández und Prof. Valentina Concu

Abschreiben: Prof. Valentina Concu

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